Mittwoch, April 20

Schatzmeister

Ich liege im Bett und resümiere den Tag.
Ich bin verstört. Geradezu maßlos verwirrt.
Unser Wirtschafts-Fachdozent. Ich sehe mich außer Stande ganze Sätze zu formulieren, ihn betreffend.
Ich gestehe, vom ersten Augenblick an habe ich ihn kritisch beäugt. Er scheint in keine Schublade zu passen. Seine Art zu lehren, schreibfaul und weitab vom Script, lässt sich immer wieder in persönliche Anekdoten fallen, Hauptberuflich Finanzberater, provokative und grenzwertige Witze, ein bisschen Chauvinist und dann noch gegelte Haare zum Jean-Pütz-Bartansatz.
Heute kamen wir dann zum großen Streitthema: Überalterung. Seinem Beisatz zur Wiedereinführung des Mutterverdienstkreuzes schenkte ich nur mäßige Aufmerksamkeit, war ich doch mit der Dame hinter mir in unsere eigene Diskussion zum Thema vertieft. Als er dann doch noch andere Lösungsansätze präsentierte, galt meiner Aufmerksamkeit der Zahl der Kinder, die jede Frau jetzt bekommen müsste um den Prozess der euro. Alterung zu verlangsamen. Ich selber, kinderlos und ohne Planung in die Richtung, habe mich plötzlich als Gegner dieser Lösungsansätze gesehen und argumentierte gegen diese Zahl, die sowieso unrealistisch ist. Das wäre genauso wirtschaftlicher Zerfall, nur zeitlich um 50 Jahre vorgezogen.
Dann war plötzlich Pause. Ich pochte aber auf meinem Standpunkt und wollte die Diskussion nicht so enden lassen. Also diskutierten er und ich privat die Pause hindurch. Angeheizt von seiner provokanten Stellung ging ich in die Offensive und argumentierte mit Fakten aus der aktuellen Die Zeit. Plötzlich, ich weiss nicht genau wie es passierte, stimmte er mir zu. Das nahm mir den Wind aus den Segeln, bremste mich aus.
Sind Sie aktiv in einer Partei?
Kindlich eingeschüchtert schüttelte ich den Kopf, ich hatte nie darüber nachgedacht. Und dann erwischte er mich. Wie naiv von mir zu glauben, er wurde Die Zeit nicht lesen. Natürlich hatte er den gleichen Artikel gelesen und überführte mich meiner geklauten Argumentation. Aber anstatt mich dafür zu belächeln, oder gar auflaufen zu lassen, sagte er nur: “Sie sollten über eine politische Aktivität nachdenken.“ Ihm selber wurde vor über 20 Jahren genauso die Option vorgelegt und seitdem ist er aktiver CDUler. Ob er damals direkt seine Entscheidung gefällt habe, war meine einzige Erwiderung und er lachte nur. Zum Abschied sagte er dann nurnoch: Ich freue mich darauf!
Und diesmal konnte ich nur mit einem Lachen antworten.

Freitag, April 8

Totgesagte leben länger

Die Deutsche Angestellten-Akademie ist sehr freundlich. Mit einer Sturzgeburt wurde ich in eine laufende Umschulung geschmissen, bin jetzt also die nächsten 20 Monate verpflichtet dort rumzugurken und mein Leben von Dozenten bestimmten zu lassen.
Mit einem lauten Freundenschrei nahm die Fachdozentin mich unter ihre Fittiche und stiess mich, ganz nach gutbürgerlicher Art, in eine natürlich schon laufende Vorlesung.
Ich bat sie flehend und bettelnd, devot und passiv-aggressiv, mich nicht vor den Leuten vorzustellen und ein Willkommensgeheiß zu provozieren. Natürlich vergebens.
Die nächsten 3 Monate verbringe ich also mit 34 Anderen in verschiedenen Vorlesesälen, die einer Uni leider viel zu nahe kommen. Sarah, meine Sitznachbarin, nahm mich gleich an die Hand und stopfte mich frohgelaunt mit dem Stoff der letzten 5 Wochen voll, die ich ja nicht teilgenommen habe.
Natürlich habe ich auch die ersten 2 Klausuren verpasst. Großartig.
Die einzelnen Fachdozenten sind Gott sei Dank ziemlich freundlich. Dimi, offensichtlich ein Grieche, hat mich gleich an meinem ersten Tag wohlwollend im Raucherbereich ignoriert, als die Pause schon vorbei war. Er stand nämlich auch noch dort. Nicht, dass ich keine Ernsthaftigkeit an den Tag legen würde, nein, dafür hab ich einfach zulange gekämpft, aber was soll ich im Saal, wenn der Dozent selber seine Pause noch um 5min verlängert? Allgemein scheint alles sehr locker zu laufen, Sarah wollte sogar während der Vorlesung raus, aber das war mir für Tag 1 dann doch zu provokant.
Alles in allem ist es angenehm für eine große Runde von Menschen eine schüchterne, verhaltene Person zu sein, die keinen Bedarf hat irgendwo anzuecken.
Während ich also all meine nahen Zukunftspläne zugunsten von Lernstoff-Nachbearbeitung an den Nagel hänge, mir zeitgleich die Freizeitbücher ausgegangen sind und der Sommer schleppend wie nie auf sich warten lässt, kann ich nur sagen: Im Westen nichts neues.
Und so beende ich meinen Entry wie er begang: mit einem lächerlich nichtssagendem Buchtitel.

Freitag, April 1

Realitätsverlust

Morgen ist Gänsemarsch. Das ist eine Art Fest, mit viel Live-Musik und engem Gedränge. Viel Alkohol, unzähligen Bodyshots und unangenehmen Fotos, die kurz danach auftauchen und mich betrunken an einer Laterne zeigen, die ich offensichtlich zu betanzen versuche.
Ich habe abgesagt.
Nicht aus den offensichtlichen Gründen. Es ist mehr.. Ich kann es nicht erklären.
Ich bin kein Mensch der oft Gefühle teilt. Ich bin eher die Art, die lange brodelt. Und dann wird runtergespielt. Was solls, das Leben geht weiter, nicht wahr? Alles wird weggedrückt, in die hintersten Ecken meines gemütlichen Gehirns, welches sich offenbar damit zufrieden gibt. Was man nicht weiß, ist auch nie passiert. Woran man sich nicht erinnert, hat keine Existenz.
Ich konnte vergessen, immer. Ich konnte meine Familie vergessen, meine alte Existenz, sogar der Verlust meiner besten Freundin reibt nichtmehr wie Rasierklingen in meiner Brust. Ich kann an sie denken, ich spioniere sogar ohne ihr Wissen manchmal ihr Facebook-Profil aus. Es schmerzt nichtmehr, wenn ich ihr Foto sehe, unsere alten Freunde, die ihr fröhlich die Pinnwand vollkritzeln.
Aber jetzt habe ich dieses Drücken in der Brust, als hätte man mir eine Klammer ums Herz gelegt.
Seit Tagen sitze ich zuhause, ich lese wie eine Wahnsinnige. 1900 Seiten in 2 Tagen. Ich verkrieche mich vor der Realität, nichtmal der Fernseher säuselt nebenher wie ein brummiger Geliebter, der seinen Teil der Aufmerksamkeit einfordert. Ich sitze einfach im Bett und lese. Die Kerzen scheinen, ich trinke literweise Tee, ich verliere das Zeitgefühl und erinnere mich nach dem notwendigen Schlaf nichtmal wann ich das Licht löschte. Schlief ich jetzt 3 oder 8 Stunden?
Zu allem Überdruß entschied ich mich, meiner einsamen Existenz noch einen Soundtrack zu verpassen. Die traurigsten, melodramatischten Violinen- und Klavierstücke fanden ihren Weg auf meinen mp3-Player und schicken mich abwechselnd in gruselige, erzwungene Emotionen. Ich versuche beim lesen also zu lächeln, und wenn ich es nicht schaffe, treibe ich meine Tränendrüsen an, mir irgendetwas zu geben. Meine Augen brennen nur kurz, ich spüre wie sie rot werden, aber ich kann auch dies nicht.
Es ist nicht so, dass ich mich einer Depression hingebe. Depressive Menschen verlieren die Übersicht und den Drang ihren Alltag konsequent zu leben.
Aber sogar dies schaffe ich nicht.
Ich halte alle Termine, ich gehe sogar motiviert vor die Tür und erledige unangenehme Gänge, weil ich mich danach mit einem frisch gepressten Orangensaft in einem Cafe belohne. Alleine.
Heute habe ich den Bescheid bekommen, dass ich meine Prüfung vor der Handelskammer ablegen darf. Dafür habe ich ein Jahr lang gekämpft. Ich spüre nichts.
Es ist genau passiert, was ich vor Monaten schon befürchtet und niedergeschrieben habe.
Die Fassade steht, aber innerlich hohl.

Und nachdem ich jetzt wundersame Minuten auf meinen letzten Satz, mein letztes Kleidungstück, geworfen habe, merke ich, dass ich mich nicht nochmehr entblössen kann. Ich werde wohl in nächster Zeit keinen leblosen Blogeintrag mehr machen.

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